Wenige Meter bis zum Strand

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16.05.2008 von axeage

Früher war sie ziemlich dick. Das lag nicht unbedingt daran, dass sie gern oder zu viel gegessen hätte, sondern vor allem an der Diabetes die sie seit fast fünfzig Jahren hat. In den letzten Monaten allerdings wird sie immer dünner und die Haut will ihr nicht mehr passen. Sie hat einfach keinen Appetit mehr. Eingefallen und immer häufiger mit resigniertem Blick, sitzt sie im Sessel ihres Wohnzimmers, die Augen trüb von Traurigkeit und drohender Erblindung – auch eine Folge der Diabetes – außerdem relativ unfähig, sich zu bewegen, weil sie im letzten Jahr kurz vor Weihnachten gestürzt war und sich den Oberschenkelhals gebrochen hat.

Sie hat es nicht leicht gehabt in ihrem Leben. Als Kriegskind aufgewachsen. Der Vater auf dem Russlandfeldzug vermisst. Mit der Totgeburt des ersten Sohnes wurde die Diabetes festgestellt. Zuckerkrankheit hieß das damals noch. Die Ärzte jedenfalls rieten von weiteren Schwangerschaften ab. Doch es kamen noch zwei Söhne zur Welt, von denen der Jüngste mit Mitte Dreißig an Krebs gestorben ist.
Für das Einkommen des Vierpersonenhaushalts war ihr Mann zuständig. Das Geld reichte gerade mal so. Einmal hat sie versucht etwas dazu zu verdienen. Für einige Wochen Nachtarbeit in einer Näherei. Aber als gelernte Schneiderin hat sie viel zu gewissenhaft gearbeitet und kaum die Akkordanforderungen geschafft. Weil Ihr Mann auch Schichtarbeiter war und die Söhne sich alleine zu Hause gefürchtet haben, gab sie den Job schließlich wieder auf.

Im Urlaub war sie insgesamt zwei Mal in ihrem Leben. Einmal in Österreich und einmal in Südtirol. Sie liebt Tiere. Mehr als die Menschen, wie sie selbst sagt. Das süchtigmachende Kindchen- und Kleintierschema sämtlicher Tiger und Co Fernsehsendungen allerdings erahnt sie wegen zunehmender Sehschwäche inzwischen mehr, als dass sie es erkennen könnte. Überhaupt lebt sie seit einiger Zeit mehr von der Erinnerung, als in der Gegenwart.

In ihren besten Jahren war sie eine starke, meist eine etwas zu starke Persönlichkeit, die vieles erdrückt hat mit ihren Überzeugungen und ihrer mütterlichen Kraft. Jetzt ist von dieser Kraft kaum noch etwas zu spüren. Ab und zu blitzt der Unwillen auf, sich dem Alter und der Gebrechlichkeit zu beugen, aber die Phasen des Auf- und des sich Ergebens werden länger und auch stetig qualvoller.
Wenn man sie nach ihrem bisherigen Lebensverlauf fragt, sagt sie, es sei schon alles so in Ordnung, wie es bisher gekommen ist. Nur eins bedauert sie sehr: bisher noch nie das Meer gesehen zu haben.

Ach Gott, irgendwann packe ich meine Mutter ins Auto, auch wenn sie sich noch so wehrt, fahre mit ihr ans Meer und schiebe sie im Rollstuhl an den Strand. Dort lass‘ ich sie dann den ganzen Tag in der Sonne sitzen und abends fahren wir wieder heim und sie muss mir erzählen wie es war. Irgendwann !

6 Kommentare zu “Wenige Meter bis zum Strand

  1. Hardy sagt:

    Genauso machst Du`s,Axel.So und nicht anders!!Die Zeit vergeht so schnell und „irgendwann“ ist es zu spät! Lg H.

  2. 500beine sagt:

    würde sagen, dieser sommer ist gemacht für so einen tag am strand.

  3. Barbara sagt:

    Ich war gerade am Meer – und obwohl ich es schon oft in meinem Leben gesehen habe, war es wieder eine traumhafte Erfahrung.

    Axel, warte nicht, sondern fahr“ hin!!!

  4. heidrun sagt:

    sei froh, dass du sie schon so lange um dich hast, und fahr sie jetzt hin.

  5. axeage sagt:

    @heidrun:
    Würde ich ja, aber die Story geht leider noch weiter!

  6. […] Dieses Lied habe ich für meine Mutter geschrieben. Wer mehr darüber wissen möchte, kann das hier nachlesen. […]

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