Brüder

1

09.06.2016 von axeage

Heike war froh, Robert so ruhig, fast weltentrückt spielen zu sehen. Am Rande des Kinderschwimmbeckens, dessen Wasserspiegel selbst Kleinkindern nur bis zur Hüfte ging, saß er mit einer kleinen Plastikgießkanne, goss auf jede der von der Sonne getrockneten Fliesen ein paar Spritzer Wasser und verrieb diese so lange mit der Handfläche, bis die gesamte Fliese vom Wasser dunkel eingefärbt war. Bei der letzten Fliese angelangt, waren die ersten bereits wieder getrocknet, also schöpfte er seine Gießkanne erneut voll und begann von vorne. Das ganze tat er bedächtig, mit äußerster Hingabe und fast aufreizender Langsamkeit.

Sein Bruder Arno hatte für diese Art Freizeitbeschäftigung nichts übrig. Er stellte sich immer und immer wieder an der Rutsche an, die in das etwas tiefere Becken führte, das sich neben dem Kinderschwimmbecken befand, bis ihm auch das zu langweilig wurde, schon, weil Warte- und Rutschzeit in einem äußerst ungünstigen Verhältnis zueinander standen. Er fragte Heike, ob er auf die großen Rutsche ins Nichtschwimmerbecken dürfe, wohl wissend, dass die Wassertiefe für ihn bereits bedenklich war und er auch schon beobachtet hatte, dass der gestrenge Herr Bademeister das ein ums andere Kind abgewiesen und die verantwortlichen Erziehungsberechtigten gemaßregelt hatte. Heike wehrte sofort ab. Nein, die Rutsche ist zu hoch und das Wasser dort viel zu tief, sagte sie bestimmt und damit war die Sache für sie erledigt. Sie war nicht gerne hier in diesem Freibad. Sie mochte die Hitze nicht und das Geschrei der Kinder. Sie war noch nie vorher mit den Kindern hier. Schon der  Aufwand mit all den Badesachen im Bus war ihr zu viel. Sie war hier, weil Arno sie gedrängt hatte. Er hatte schon so viel vom Freibad gehört, war aber noch niemals hier gewesen. Jetzt, da er endlich hier war, wusste er nicht, was er davon halten sollte. Die Kinderrutsche war Scheiße. Würde er wenigstens ein Mal auf die große Rutsche ausprobieren dürfen, würde es vielleicht besser werden, vielleicht sogar gut, vielleicht sogar sehr gut. Bitte, lass mich wenigstens ein Mal, flehte er. Er musste es wenigstens ein Mal versucht haben, sonst war dieser Ausflug ins Freibad nichts wert. Heike schüttelte den Kopf, Arno war der Verzweiflung nahe. Heike, die ein Kreuzworträtsel löste, legte ihren Stift beiseite und sah auf ihren Jüngsten, der zu ihren Füßen so brav die Fliesen putzte, so als wollte sie Arno bedeuten, dass man sich auch ruhig und hingebungsvoll mit etwas beschäftigen konnte. Auch Arno betrachtete seinen Bruder, schüttelte kurz den Kopf, um damit auszudrücken, dass derartige Betätigungen überhaupt nicht in seine Arnowelt passten und fragte dann noch einmal mit flehentlicher Stimme, ob er denn nicht wenigstens ein Mal, ein einziges Mal von der großen Rutsche rutschen dürfe.

Heike kam nicht mehr dazu, ihm zu antworten. Sie sah, dass einige der Fliesen, die von Robert bereits „behandelt“ worden waren, rote Flecken aufwiesen. Die Fliese, die der Kleine soeben in Bearbeitung hatte, war besonders rot eingefärbt. Heike legte das Kreuzworträtselheft weg, riss Robert die Gießkanne aus der Hand und betrachtete die Innenseite seiner Hände. Beide Handflächen und sämtliche Fingerspitzen waren aufgerieben. Der Kleine blutete heftig, hatte dies aber vor lauter Konzentration und Hingabe überhaupt nicht bemerkt. Erst jetzt, als seine Mutter ihm seine Handflächen zeigte, spürte er den Schmerz und das Chlorwasser brannte wie Säure in den aufgeriebenen Stellen. Ungläubig sah er seine Mutter an, die sich nicht dazu durchringen konnte, den Kleinen lediglich zu bedauern und zu trösten, sondern ihm Vorhaltungen machte, was er denn da angestellt habe. Als er sein Gesicht verzog und losweinen wollte, sah Arno seine Chance gekommen. Langsam schlich er sich seitwärts davon und als er dem Blickfeld seiner Mutter entschwunden war, rannte er so schnell er konnte in Richtung Nichtschwimmerbecken, vergewisserte sich, ob der Bademeister nicht zufällig in seine Richtung schaute und stellte sich an der Schlange zur Treppe der Rutsche an.

Die Treppe war sehr steil und sehr hoch. Arno schaffte es nur mit großer Anstrengung, die hohen Stufen zu erklimmen. Er spürte die abschätzigen Blicke der Großen, die vor und hinter ihm die Treppe mit wesentlich weniger Mühe als er hochstiegen. Der Junge vor ihm tropfte mit seiner Badehose sein Gesicht voll. Als Arno deshalb etwas Abstand halten wollte, drängte der hinter ihm. Na mach schon, oder traust Du Dich nicht? Arno wurde flau im Magen. Auf halber Höhe sah er zum Planschbecken und beobachtete, wie seine Mutter Robert verarztete. Der Kleine schien herzerweichend zu weinen und betrachtete immer und immer wieder seine geschundenen Hände. Noch vier Stufen. Arno war noch nie alleine irgendwo so hoch hinaufgeklettert. Mit jedem Kind, das kreischend die steile Rutsche hinabrutschte, wurde ihm etwas flauer im Magen. Auf der drittletzten Stufe begann er sein Vorhaben zu bereuen. Von unten sah die Rutsche bei weitem nicht so hoch aus, wie jetzt, da er fast oben war. Er malte sich aus, wie es oben sein würde. Die letzte Stufe war offensichtlich besonders hoch. Größere Kinder schafften es, sich sofort, ohne zu straucheln in Position zu setzen. Arno, der viel zu kurze Beine dafür hatte, war gezwungen, sich zunächst auf die glitschige Plattform zu stellen, dann sich, ohne abzurutschen, hinzusetzen, dann erst konnte es losgehen. Das Schlimmste aber war nicht die Höhe, sondern die Wassertiefe, die ihn am Ende der steilen Rutsche erwarten würde. Er war noch niemals in einem Schwimmbecken gewesen, dessen Wasserspiegel höher war als bis zu seinem Bauchnabel. Er hätte vorher testen sollen, wie tief das Wasser war. Er hatte noch nie versucht zu schwimmen. Jetzt, wenn es zu tief für ihn war,  würde er gezwungen sein, zu schwimmen. Nur noch eine Stufe. Er ging im Geiste noch einmal alle notwendigen Schritte durch: mit beiden Händen am Geländer festhalten – mit beiden Beinen auf die Plattform steigen – vorsichtig hinsetzen und dabei Acht geben, dass ihm die Beine nicht wegzogen wurden und er hinfiel, womöglich auf den Hinterkopf – Augen zu – kreischen und hinunterrutschen. So schwer konnte das nicht sein. Es musste gelingen.

Trotzdem sah er sich fast flehentlich nach dem Bademeister um, doch der hatte gerade ein Flirtgespräch mit zwei Bikinimädchen. Der Junge vor ihm rutschte laut jauchzend  ins Wasser. Arno zögerte, weshalb sich der Bursche hinter ihm erneut dazu genötigt sah, Arno zur Eile zu drängen. Umständlich erklomm er die oberste Stufe. Er blickte in die silberne, blankgescheuerte Halbröhre, die steil nach unten verlief und dachte, dass es der Junge hinter ihm wahrscheinlich gar nicht erwarten konnte und ihm schließlich in den Rücken sprang, wenn Arno das Eintauchen ins Wasser überhaupt überlebte, immerhin war das Ende der Rutsche gut einen Meter über der Wasseroberfläche, so dass spätestens dann sein  letztes Stündchen geschlagen haben würde. Los jetzt hörte Arno hinter seinem Rücken. Immer noch hielt er sich krampfhaft an den Haltestangen links und rechts fest. Augen zu oder Augen auf? Das war die letzte Entscheidung, die er vor dem Abstoßen noch treffen musste. Als er sich für Augen auf entschieden hatte und sich gerade abstoßen wollte, hörte er zeitgleich die Trillerpfeife des Bademeisters und die Stimme seiner Mutter laut Arno, komm sofort da herunter rufen. Er konnte nicht mehr zurück.

Ein Kommentar zu “Brüder

  1. wildgans sagt:

    Die kleinen, leisen Dinge, groß beschrieben!

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